Oscar-Kandidat „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski: Vier Mädchen, eine Geschichte

Mit dem zweiten Film gleich in den Wettbewerb von Cannes eingeladen zu werden, ist eine Ehre, die kaum einer deutschen Regisseurin zuteilwird. Dann auf dem wichtigsten Filmfestival mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet zu werden, ist eine echte Sensation. Gelungen ist dies der Berliner Regisseurin Mascha Schilinski mit „In die Sonne schauen“ – einem Film, der allein auf seine eigene, klangvolle, vielschichtige Stimme vertraut. Und jetzt auch noch als deutscher Oscar-Vorschlag eingereicht wurde.
Schilinski erzählt ihren Film komplett aus einem Gebäude heraus: einem Vierseithof in der Altmark, in dem vier Mädchen in vier verschiedenen Jahrzehnten aufwachsen. Ihre Geschichten, Gefühle und Gedanken durchdringen die Chronologie der 100-jährigen Zeitachse, berühren sich gegenseitig, fließen ineinander zu einem mäandernden Gebilde.
Die kleine Alma (Hanna Heckt) lebt vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gutshof in einer ländlichen Großfamilie und findet heraus, dass sie nach ihrer verstorbenen Schwester benannt wurde. Die Beschäftigung mit dem Tod lässt sie nicht los, während ihr Leben von schweigsamen Mahlzeiten, Religiosität, Aberglaube und makabren Spielen mit den Geschwistern geprägt ist.
In den 1940er-Jahren ist die junge Erika (Lea Drinda) fasziniert von der Versehrtheit ihres Onkels, dem ein Bein amputiert wurde. In den 80er-Jahren der DDR ist Angelika (Lena Urzendowsky) von einem großen Lebensdurst und einer melancholischen Todessehnsucht angetrieben. Den verliebten Blicken ihres Cousins ist sie ebenso ausgesetzt wie den Zudringlichkeiten ihres Onkels.

Die kleine Alma (Hanna Heckt, rechts) lebt vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gutshof.
Quelle: Neue Visionen
Schließlich kommt der Film in der Gegenwart an. Eine junge Berliner Familie hat den Hof gekauft. Die beiden Töchter spüren schon bald die morbide Melancholie, die mit der Geschichte dieses Ortes verbunden ist. Mit einem fast schon schlafwandlerisch-schwebenden Erzählrhythmus verwebt Schilinski die verschiedenen Zeitebenen miteinander. Das enge 4:3-Bildformat verstärkt die beklemmende Atmosphäre.
Dabei hält sich Schilinski stets an die subjektive Sichtweise der vier Mädchenfiguren, deren Welt sich auf der Leinwand aus fragmentierten Erlebnissen, Träumen und Gefühlen unvollständig zusammensetzt. Durch die Zeitebenen hindurch gibt es immer wieder Verbindungselemente, sodass aus den Mädchenleben ein überzeitliches Erinnerungsgewebe entsteht. Dabei vertraut Schilinski auf eine assoziative Erzählweise, die auf der Leinwand eine erstaunliche Sogwirkung entfaltet.
Nicht alles wird erklärt und ausgeleuchtet in diesem Film, der die Grenzen zum Mystischen immer wieder streift, aber nie die Verankerung in der historischen und emotionalen Realität seiner Figuren verliert.
„In die Sonne schauen“, Regie: Mascha Schilinski. Mit Lena Urzendowsky, LuiseHeyer, Laeni Geiseler, 149 Minuten, Kinostart 28. August.
rnd